Paare, ein Passant
Zu Thomas Werners Bildraum „Twins“
Man macht noch einen Schritt und steht vor dem Bild. Das klassische Setting. Auge in Auge. Rings um das Bild nur Wand, Nicht-Bild-Zone. Eine Leere, die dem einzelnen Bild Fülle gibt, Gewicht, Bedeutung. So ist es auch im Werk von Thomas Werner. Es gibt diese Bilder, die keine anderen Bilder in ihrer Nähe dulden. Bindungsschwache Hagestolze, selbstgenügsame Solisten. Und es gibt die anderen, die eng zusammenrücken, irgendwie aneinanderhängen, auch wenn man nicht gleich weiß, was sie verbindet.
Man macht noch einen Schritt und steht vor Bildern. 42 gleichformatige Leinwände, angeordnet an vier Wänden, ein doppelstöckiger Sechserblock, drei doppelstöckige Fünferketten. Wenn man den Raum betritt, ist man eingeschlossen von Malerei. Ein rahmenloses Bild neben und über und unter dem anderen. Ohne Unterbrechung, ohne einen Spalt, der Sicht auf etwas außerhalb der Malerei ließe. Auch ohne Deckenabschluss ist der Eindruck der eines ausgemalten Kabinetts, einer hermetisch abgedichteten Kammer.
Man macht noch einen Schritt und noch einen und ist nirgendwo allein mit einem Bild, auch wenn jedes gänzlich autonom und Nachbarschafts-unbedürftig erscheint.
Man scannt sich die Wände entlang und findet keinen Anfang und kein Ende, keinen Start und kein Ziel. Nicht einmal die „Leserichtung“ scheint vorgegeben. Und wenn man zunächst einmal faszinierende Ratlosigkeit bekennt, dann ist das durchaus im Sinne dieser konzeptuellen Malerei. Sie mutet an wie die Bilderrätsel, die man früher „Rebus“ nannte. Nur dass es da eine Lösung geben musste, und man hier bald ahnt, dass keine Geschicklichkeit im Umgang mit den zersplitterten Bildsilben noch einmal zum vernünftigen Satz führen wird.
Was keineswegs heißt, dass sich die unterschiedlichen Bild-Ereignisse nicht zu einem Gesamtbild zusammenschlössen. Auch wenn man ein solches Gesamtbild nicht wirklich beschreiben könnte, legen die Fügung und Verfugung der einzelnen Bilder einen noch unbekannten Zusammenhalt nahe. Allein schon, weil es kaum möglich ist, ein Bild aus dem Set herauszulösen und es isoliert zu betrachten. Immer schickt das Bild drüber oder drunter, das Bild links und rechts seine Aura über seine Begrenzung hinaus, fällt seiner Umgebung gleichsam ins Wort. Aber kein Schritt im Raum bringt einen näher an das umgebende Ganze heran. Und bei aller Enge und Komplizenschaft der Bilder gelingt es nicht, sie in ähnlicher Weise summarisch zu überblicken, wie man vor den unverbundenen Details einer Landschaft steht und sie zur pauschalen Ansicht addiert. Wenn überhaupt so etwas wie Bilderzählung intendiert ist, dann muss sie einer geheimen, undurchsichtigen Dramaturgie folgen. Schon möglich, dass sie im Verlauf des Malprozesses verloren gegangen oder malermutwillig getilgt worden ist.
Tatsächlich stand am Beginn des Projekts eine szenische Figuren-Zeichnung, die sich auf den grundierten, grobmaschigen Leinwänden monumental über den ganzen Bildraum hinweg erstreckt hat. Man darf das wissen, entscheidend ist es nicht. Und erhalten hat sich davon auch nur eine fotografische Dokumentation. Denn schon im vorbereitenden Stadium stand fest, dass nichts oder kaum noch etwas an die Genese erinnern soll. Rasch ist im Fortgang des malerischen Prozesses nicht nur das Mosaik zerbrochen, und sind die einzelnen Bildbausteine durcheinandergeraten. Auch so gut wie jeder Gegenstandsrest ist in eine freie Formation überführt worden, die ohne Kenntnis der Herkunft keine wirkliche Assoziation mehr zulässt. Der Maler mag sich erinnern, erkennt vielleicht noch, was unter und in den Malschichten verborgen ist - ein Stück Arm, die Beuge eines Beins. Dem Betrachter indes kommen die schwebenden Formen eher wie abgerissene Wolken vor. Zuweilen könnte man auch an Zellbausteine unter dem Elektronenmikroskop denken oder an wuchernde Bakterienkulturen. Aber solche Anleihen sind doch nur Ausfluchten aus einem rätselhaften Farb-Organismus, als sei man in ein gegenstandslos koloristisches Niemandsland geraten, wo man noch nie war, und wo sich nichts abgleichen lässt mit der sichtbaren Welt.
So sieht man sich um und stellt bald einmal fest, dass die Bildsujets im Layout der Wände doppelt vorkommen, in je einer farbigen und einer, wie Thomas Werner sagt, grauen Fassung, die aus deutlich gedämpften, ins Bleiche spielenden Farbtönen besteht. Wobei Rücknahme an Farbigkeit keineswegs Rücknahme an malerischer Raffinesse bedeutet. Die Doppelfassung der Motive bestimmt wie ein genetischer Bauplan den Malerei-Auftritt: Im selben Maße, in dem jedes Bild für sich ist und seinen eigenen Platz behauptet, ist es auch eingepasst in eine kontrapunktische Struktur. An manchen Stellen hängen die Paare („Twins“) näher beieinander, an anderen muss man sich erst einmal umdrehen, um den Bildpartner zu entdecken.
Dass die Bilder nicht zufällig an der Wand hängen, dass sich ihre Abfolge einer Regie verdankt, darf man unterstellen. Der Maler ist auf eine Art immer auch Layouter, anders kann es nicht sein. Er sieht formale oder farbliche Verwandtschaften, unscheinbare Parallelen, komplementäre Situationen, die er bei der Ordnung der Bilder an der Wand auch geschehen lässt. Und gleichzeitig tut er alles, um beim Austeilen der Spielkarten keine erkennbare Regel zu verraten. Jede farbige Version hat diesen schmalen Weiß-Rand um sich herum, der sie aus dem Verbund heraushebt und deutlich macht, dass die Zusammenstellung künstlich ist, künstlerisch. Man könnte auch sagen: dass sie ihre eigene künstlerische Logik hat. Ihren komponierten Rhythmus. Dynamisiert von einem perkussiven Sound, der im malerischen Klima weder anschwillt noch verklingt, der zwanglos immer weiter hallt.
Dabei folgt auch das „Twins“-Projekt jener malerischen Untersuchung, die Thomas Werners Werk schon immer zwischen gegenständlichen und ungegenständlichen Formulierungen oszillieren ließ. Dass man sich für das eine oder andere zu entscheiden hat, hat er nie gelten lassen. So wenig, wie er davon überzeugt war, dass ein Weltverhältnis als Künstler nur am Grad des Ausdrucks oder surrealer Tarnung messbar ist und sich nicht geradeso gut mit Instrumenten des bild-idiomatischen Experiments und der motivischen Dekonstruktion bezeugen lässt. So gab und gibt es ohne Gewichtsklassenunterschied beides im Werk, die figürliche und die ungegenständlich zeichenleere Malerei, und bis heute hat der Maler auf keine der Bildoptionen verzichten wollen.
Und wenn man den Wechselkurs verfolgt hat, dann ist mehr und mehr deutlich geworden, wie diese Malerei aus den figürlichen und abstrakten Anteilen ein dekoratives Drittes schafft, eine ornamentale Handschrift, die die Buchstaben solange und so erfinderisch tauscht, bis aus den Worten Bilder geworden sind. Spätestens seit den neunziger Jahren ist der ikonologische Begriff des „Decorums“ zum eigentlichen Leitmotiv in diesem Werk geworden. Und „Twins“ ist wie ein vorläufiger Höhepunkt, der die „Decorum“-Idee noch einmal auf die Probe stellt und sie im Raumerlebnis verdichtet. So gesehen waren auch die gegenständlichen nie wirklich diskursive Phasen, waren vielmehr interessiert an den Bedingungen des Mediums Malerei, an der Herkunft der Bilder aus Bildern, an ihrer grenzenlosen Verfügbarkeit. In der Summe erzählen Thomas Werners Bilder alle, ob sie gegenstandsnah oder gegenstandsfern angelegt sind, von den Anregungen, Freiheiten und Möglichkeiten zeitgenössischen Bilder-Bewusstseins.
Und „zeitgenössisch“ kann schlechterdings kein Standort sein, der hinter den Erfahrungen der digitalen Epoche siedelt. Früh schon hat der Maler die neuen Medien für sich instrumentalisiert, hat den Photoshop als Entwurfslabor genutzt und sich die Bildquellen des Internets erschlossen. Es gibt in diesem Werk nichts, was noch an die malerfürstliche Grandiosität erinnert, die sich den Triumph der Malerei nicht anders als in der Kultivierung der Tradition vorstellen kann. In überzeugender Opposition dazu zielt Thomas Werner auf ein Design, das seine Gegenwärtigkeit akzentuiert, auf Bilder, die sich zu den aktuellen Lebensentwürfen bekennen. Bilder, deren unverkennbare Personalität nicht aus alten Abständen stammt, sondern aus neuer Zugehörigkeit.
Entsprechend kann es auch nicht falsch sein, als gelassener „Digital Native“ den „Twins“-Raum zu betreten. Und wenn man bei der Umschau an die Streifzüge im Internet denkt, die einen von einer distanzlosen Entfernung zur anderen führen, und bei denen man überall gewesen ist, aber nirgendwo ankommt, dann sieht, spürt und erlebt man, wie das „Decorum“ zum großen sinnlichen Ereignis wird.
Hans-Joachim Müller, November 2018
Pairs, a passer-by
On Thomas Werner’s painting installation “Twins”
You step forward and stand in front of the painting. It’s the classic setting. Face to face. Around the painting there’ll be wall, non-painting-zone. An emptiness that lends the individual painting richness, weight, meaning. This applies to Thomas Werner’s work, too: There are paintings in his oeuvre that don’t tolerate other paintings alongside them. Confirmed bachelors unwilling to enter into any bond whatsoever, self-sufficient soloists. And then there are the others, huddling closely together and somehow connected, even if it’s hard to make out exactly what links them at first.
Another step forward. You stand in front of the paintings: 42 canvasses of the same format, arranged across four walls, a two-story block of six, three two-story strings of five. Upon entering the room you are enveloped by painting. One unframed painting next to, above and underneath the other. Without any break, without a single gap that would allow the gaze to rest in between the pieces. Even without their painted surfaces stretching all the way to the ceiling the room creates the impression of being a painted cabinet, a hermetically sealed chamber.
You take another step and then another – and you’re never alone with a painting, even if it appears entirely autonomous and not in need of neighborliness whatsoever.
You scan the walls and find no beginning and no end, no starting point and no telos. Not even a “reading direction” appears predefined. If the viewer were to confess to being fascinated, yet baffled at first, then this is certainly consistent with the objectives of this conceptual approach to painting. The work appears somewhat akin to one of those picture puzzles of yore. Only the latter had a solution, and in the present case we soon divine that no measure of ingenuity in piecing together the splintered visual syllables will lead us to a sentence that makes any sense.
Which in no way means that the different painted events do not together constitute a coherent whole. And while it is difficult to describe such an overall image, the insertion and positioning of the individual paintings does suggest an unidentified cohesion. If simply for the reason that it is almost impossible to extract a single painting from the set and look at it by itself. Every time you attempt to do so, the aura of the painting above or below, of the painting to the left or right spills across the boundaries of the canvas and cuts in, as it were. Yet no step taken in the space brings the viewer closer to the surrounding whole. Despite their closeness and complicity, you do not arrive at a summary overview such as the one you might achieve when faced with unconnected details in a landscape, which may be included in the overall vista. If anything like a visual narrative is even intended, it must follow a secret, opaque script. It could also have been lost in the painting process – or been intentionally obliterated by the painter himself.
As a matter of fact the starting point to the project was a monumental scenic figure drawing that stretched across the entire image space of the primed, coarsely woven canvasses. While the artist is happy for his audience to know this, he does not see it as crucial to viewing the work. The only thing that remains of this drawing is photographic documentation. Even while working on this preliminary stage, Werner knew that he wanted nothing, or barely anything, in the finished work to reflect its genesis. Over the course of the painting process he not only broke up the mosaic early on, but also scrambled up the individual painterly building blocks. Almost all remnants of the subject matter have been translated into a free formation which, if one is not aware of the starting point, does not allow for associations. The painter may remember, might still be able to make out what is hidden under the layers of paint – a part of an arm, the crook of a knee. The viewer is, however, more likely to be reminded of clouds ripped to shreds when looking at the floating shapes. At times they may also be reminiscent of cellular components under the electron microscope or of proliferating bacterial cultures. Yet such connotations remain mere attempts at evading a mysterious organism of color, in which it can feel as though one has stepped into an abstract colorist no-man’s-land, where one has never been before and where nothing allows itself to be correlated with anything in the visible world.
Looking around, you quickly ascertain that the painted subject matter is repeated in the layout across the walls, with each theme existing twice: Appearing once in a colored and once in an, as Thomas Werner describes it, grey version, with the latter made up of considerably deadened, paler hues. However, the reduction in brightness does not entail a lessening of painterly finesse. The doubling of the themes determines the arrangement like a genetic blueprint: to the same degree that each painting stands for and asserts itself it also belongs to a contrapuntal structure. In some cases, the two paintings belonging to a pair (“Twins”) are hung directly next to each other, while in others viewers have to turn around before they can make out the corresponding piece.
We can assume that the paintings are not placed haphazardly on the walls, and that their succession is based on the artist’s intention. In some way the painter is responsible for the layout, there’s no other way for a work to come about. He sees formal or color-related affiliations, seeming parallel worlds, complementary situations, which he allows to unfurl in the placement of the paintings on the wall. And at the same time he does everything he can to avoid revealing any discernible set of rules in dealing out his cards. All of the color versions feature a small edge of white that lifts them out of the grouping and makes it clear that the arrangement is artificial, artistic. One could also say: that it follows its own artistic logic. A composed rhythm. Rendered dynamic by a percussive sound, that in the painterly climate neither increases in volume nor fades away but leisurely continues to echo ever after.
In all of this, the “Twins” project also traces the same painterly analysis that has allowed Thomas Werner’s oeuvre to oscillate between representation and abstraction from the very beginning. He has never accepted that artists should choose the one or the other. And neither has he ever been convinced by the assumption that the relationship an artist has with the world can be gaged solely by the degree of expression or surreal concealment in their work, rather than being verifiable just as easily with instruments of image-idiomatic experiments and the deconstruction of the themes employed. And so he allows both figuration and abstraction devoid of symbols to coexist in his work without placing the emphasis on either – and to date, the painter has not been willing to eschew either of the two.
Following Werner’s fluctuation between both of these approaches, it becomes ever more clear how he creates a decorative third term from the figurative and abstract parts of his painting practice, an ornamental script that exchanges the individual letters of its code for as long and in as innovative ways as it takes for the words to turn into images. Since the 1990s at the very latest the iconic notion of “Decorum” has turned into the true leitmotif of this oeuvre. And “Twins” constitutes a preliminary peak within it, one that tests the “Decorum” idea once more and consolidates it in a spatial experience. Seen in this light, Werner’s representational phases were never really discursive either – instead, he was interested in sounding out the conditions of the medium of painting, in the derivation of images from images, their limitless availability. In sum, all of Thomas Werner’s paintings, be they conceived close to figuration or removed from it, tell of stimulation, freedoms and possibilities inherent in our contemporary awareness of images.
Meanwhile, “contemporary” simply cannot be a place located beyond the experiences of the digital era. The painter began employing new media in his work early on, using Photoshop as a design laboratory and exploiting the image sources of the internet. There is nothing in his oeuvre that still reminds us of the genius painter’s grandiosity unable to imagine the triumph of painting in any other way than in the cultivation of tradition. In convincing opposition to this position, Thomas Werner aims to create design that places its emphasis on its currency, and paintings that acknowledge current life scripts. The unmistakable personality of these paintings does not stem from old distances, but from new affiliation.
Correspondingly, it cannot be a bad thing to enter the “Twins” room as a relaxed “digital native”. And if glancing around the space conjures up forays into the internet, which lead us from one shrunken distance to the next, taking us across the globe and beyond without ever allowing us to arrive anywhere, then we sense and experience the “Decorum” turning into a great sensory experience.
Hans-Joachim Müller, November 2018